Wahrnehmungsmedium Schrift
Die im Zuge dieser skizzierten Forschungsbemühungen entwickelten Argumentationsfiguren und Theoriebausteine ermöglichen in Hinblick auf eine Theorie der Schrift eine Verschiebung der epistemologischen Aufmerksamkeit vom Aspekt der Schrift als Kommunikationsmedium, hin zu einem Wahrnehmungsmedium. Der Rekurs auf aktuelle Schriftdebatten kann demzufolge argumentativ untermauern, was schon aus musikalisch-performativer Perspektive bereits heuristisch anzumerken war: Die traditionelle, eurozentristische, in vielerlei Hinsicht fragwürdig und partiell obsolet gewordene Vorstellung, musikalische Schrift stelle einzig eine ‚Über-Setzung‘ eines realen oder imaginierten Klanges dar und diene als Handlungsanweisung allein dazu, rückübersetzend wieder zum Klingen gebracht zu werden, ist auch schrifttheoretisch nicht haltbar: Musikalische Schrift ist nicht nur weniger, sondern zugleich immer auch mehr als bloße Aufzeichnung von Klangereignissen oder Imaginationen von musikalischem Klang.
Damit ist der Weg für eine veränderte Perspektive auf die Theorie der musikalischen Schrift musikalisch geebnet und epistemisch asphaltiert. Die angedeuteten Momente, Beobachtungen und epistemischen Verschiebungen motivieren, evozieren und ermöglichen somit eine Drehung der theoretischen Perspektive auf die musikalische Schrift, die bislang wenig beachtete Phänomene ins Licht der Aufmerksamkeit rückt, ohne dabei eine fundamentale Absage an traditionelle Vorstellungen in Bezug auf die Funktion von musikalischer Notenschrift als Speicher- und Kommunikationsmedium fordern zu müssen. Thetisch sind nunmehr drei Momente herauszuheben:
(a) In ihrer aisthetischen Dimension erweist sich ein konstitutives mediales Moment der musikalischen Schrift. Die besondere Aufmerksamkeit für die Aspekte der Doppeldynamik aus Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit – im spezifischen Modus von hörbaren Zeichen – erschließt einerseits neue Phänomenbereiche der musikalischen Schrift und ermöglicht eine differenziertere Kategorisierung einer allgemeinen Theorie der Schrift. Schriften unterlaufen die seit Lessings Laokoon in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte tief verwurzelte Trennung von Sprache und Bild, sie „verbinden Attribute des Diskursiven wie des Ikonischen.“ (Krämer/Cancik-Kirschbaum/Totztke 2012:14) Gebunden ist die visuelle Wahrnehmbarkeit in einem basalen Sinne an die Materialität der Schrift und des Schreibens. Vor diesem Hintergrund wären demnach die differenzierten philologischen Überlegungen, die im Zuge der New Philology (Cerquiglini 1989), die ein stärkeres Interesse an ‚Writing/Schrift/Ecriture‘ im Gegensatz zum vollendeten ‚Werk‘, zur vollendeten Schrift insbesondere in Hinblick auf ältere Schriftdokumenten entwickelte, der Material Philology (Nichols 1990), die das Bewusstsein um die Materialität stärker ins Bewusstsein rückte, und zuletzt der critique genetique (Grésillon 1999, 2010) mit ihrem Interesse an der differenzierten Darstellung textgenetischer Prozesse in noch stärkerem Maße zu bedenken, als dies bisher in Hinblick auf die Musikphilologie unternommen wurde. Hieraus sind über die Beschäftigung mit der schriftinternen Ikonizität wesentliche Impulse für die Beschäftigung mit Fragen zur Räumlichkeit und Zeitlichkeit von Schrift zu erwarten, zu denen musikalische Aufzeichnungen – in einem gewissen Gegensatz zu verbalsprachlichen Notationen – per definitionem ein enges Naheverhältnis haben.
(b) Musikalischen Schriften eignet ein spezifisches Moment inskribierter performativer Präsenz, das in einer Neutralisierung des Referenzaspektes der Schrift als eines Kommunikationsmediums vor dem Hintergrund des medialen Status musikalischer Schriften als Aufzeichnungen musikalischer Geschehens Spielräume für die Analyse wesentlicher schrifttheoretischer Kategorien eröffnet. Geht die hermeneutische Perspektive der Text- und Schriftinterpretation (und in der Texthermeneutik wäre immerhin die Ursituation philologischer Bemühungen zu sehen) davon aus, dass die Funktion der Sprache und Schrift in der repräsentationalen Verweisung bestünde, so erweist sich dies vor dem Hintergrund der musikalischen Schrift in vielerlei Hinsicht als hinterfragenswert. Eine posthermeneutische Drehung (Mersch 2010) des Schriftdiskurses lässt sich durch die Analyse der spezifischen Medialität musikalischer Schrift argumentativ unterstützen.
(c) Klangereignisse werden in ihrer schriftlichen ‚Verdinglichung‘ handhabbar, manipulierbar, reflektierbar und können infolgedessen diversen (Text-)Operationen unterzogen werden. Die These, dass sich die Form der Sprache in der und durch ihre schriftliche Darstellung überhaupt erst konstituiere, dass also vielmehr das Phonem als ein „Epiphänomen“ des Graphems sich erweise (Krämer 2006:78), eröffnet bislang wenig diskutierte Denkräume auch einer Theorie der musikalischen Schrift, deren präzise Kartographierung wiederum dazu beiträgt, wichtige Stichworte im aktuellen Schriftdiskurs theoretisch differenziert diskutiert werden.