Projektidee
Ziel des im Folgenden skizzierten Forschungsprojekts ist die Formulierung einer Theorie der musikalischen Schrift. In produktivem Wechselspiel einer kritischen Evaluation aktueller Debatten um eine allgemeine Schrifttheorie einerseits und eines quellenbasierten Rekurses auf konkrete musikalische Problemstellungen andererseits bedient sich das Vorhaben einer disziplinär-interdisziplinären Doppelstrategie. Hierbei macht sich das Projekt ausgehend von der historisch und kulturell fundierten Analyse musikalischer Notationen epistemologische Verschiebungen des Forschungsansatzes und Erkenntnisinteresses innerhalb des interdisziplinär geführten Diskurses über Schrift und Schriftlichkeit zunutze: Ohne Zweifel stellen im Laufe der Geschichte musikalische Notationen differenzierte Zeichensysteme dar, keineswegs aber erschöpft sich musikalische Schrift in der bloßen ‚Referentialität‘ eines reinen Kommunikationssystems. Aspekte der Materialität des Notierten, Momente der explorativen und kognitiven Bedeutung des Notierens, Phänomene der Schrift eingeschriebenen Performativität sowie die aisthetische Dimension musikalischer Notate in ihrer visuellen Präsenz stellen irreduzible Konstitutiva eines adäquaten Begriffs der musikalischen Schrift dar. Dementsprechend sind in vorliegendem Forschungsprojekt vier Research Areas vorgesehen, die zentrale (bislang vernachlässigte) Kategorien einer Theorie der musikalischen Schrift in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken: Materialität, Operativität, Ikonizität und Performativität.
Im Sinne geistes-, kunst- und kulturwissenschaftlicher Grundlagenforschung begegnet das Projekt damit zwei hochaktuellen Forschungsdesiderata: Zum einen zielt es auf eine für musikphilologische, -analytische, -theoretische und -historische Forschungen dringend erforderliche notationelle Reflexion innerhalb der musikologischen Theoriebildung. Zum anderen greift das Vorhaben in den aktuellen Diskurs über den transdisziplinären Gegenstand Schrift ein und leistet damit einen bislang fehlenden Beitrag bei der Entwicklung eines lautsprachenunabhängigen (nicht-phonographischen) Schriftkonzepts.
Die zu entwickelnde Theorie der musikalischen Schrift erhebt nicht den Anspruch holistischer Gültigkeit für alle denkmöglichen Schriften jeglicher musikalischen Kulturen – sehr wohl sei aber die These formuliert, dass die avisierte Theorie als eine mögliche Theoriebildung in Hinblick auf ihre theoretische Plausibilität, ihre systematische Konsistenz, ihre epistemologische Diskursfähigkeit und phänomenologische Passgenauigkeit zielführend ist. Zentrale Prämisse des beantragten Forschungsprojekts ist, dass die Formulierung einer Theorie der musikalischen Schrift derzeit nicht nur notwendig ist (um beispielsweise der im Zuge neuester technisch-medialer Entwicklungen kursierenden Überlegung, musikalische Notation lasse sich verlustfrei als digitaler Code darstellen, wissenschaftlich fundiert entgegentreten zu können.) sondern durch die Verschiebungen im theoretisch-philosophischen Bereich zuallererst ermöglicht werde.
Ein derartiger Entwurf ist heute selbstverständlich nur mehr kollaborativ denkbar. Die grenzüberschreitende Kooperation zwischen den vier Kooperationspartnern aus Österreich (Innsbruck und Wien), Deutschland (Gießen) und der Schweiz (Basel) bringt ein Mehrwert an unterschiedlichen Perspektiven, Forschungsinteressen und Expertisen mit sich, der die vorausgesetzte Weite des theoretischen Blicks in Hinblick auf die kollaborative Formulierung des grundlegenden theoretischen Entwurfs zuallererst ermöglicht.