A. Research Area Materialität | Paul Sacher Stiftung Basel
Leitung: Simon Obert
Wie in anderen Schriften, so besteht die materiale Voraussetzung der musikalischen Notation auch in einer zweidimensionalen Flächigkeit, die geeignet sein muss, eine Differenz wahrnehmbar zu machen, indem ihr etwas farblich Kontrastierendes hinzugefügt (selten auch etwas weggenommen) wird. (Diese Wahrnehmbarkeit ist fast ausschließlich visuell; allerdings sei auf den Fall der Braille-Notenschrift für Blinde bzw. Sehbehinderte hingewiesen; vgl. Krolick 1998). Diese Differenz besteht zunächst – vor aller Bedeutungszuschreibung – visuell, so dass hinsichtlich der Schriftbildlichkeit zwischen Beschreibstoffen und Schreibstoffen zu unterscheiden ist. (Diese basale Unterscheidung ist im Hinblick auf ein umfassendes Verständnis der Schrift-Materialität notwendig, weil die häufig getroffene Unterscheidung zwischen „Text und Träger“ bereits auf einer semiotischen Ebene ansetzt, was eine apriorische Verengung möglicher epistemologischer Einsichten nach sich zöge. [Vgl. Kehnel/Panagiotopoulos 2015]) Damit ist in erster Hinsicht die dimensionale Flächigkeit des Notat-Raums angesprochen, der durch die Hinzufügung kontrastierender Notate geteilt, d.h. differenziert wird: in belassene, unberührte und in gefärbte, ‚berührte‘ Flächen. In zweiter Hinsicht besitzt aber die Fläche drei relationale Dimensionen – links/rechts, oben/unten sowie innen/außen –, die über die Kombination der Notate, sei es im Akt des Schreibens, Sehens oder Lesens, zu Gerichtetheiten konkretisiert werden. Diese beiden Hinsichten eignen sich vorzüglich, um die Materialität der musikalischen Notation in ihrem Objektcharakter zu erfassen, da es hier um die Beschaffenheit der Phänomene selbst geht: um die stoffliche Beschaffenheit der Beschreibstoffe und Schreibstoffe sowie um die gestaltliche Beschaffenheit der Notate, die sich auf Punkt und Linie, das „Elementarrepertoire von Notationen“ (Krämer/Totzke 2012: 18), zurückführen lassen. Stoffe und Notate konvergieren in der Fläche. Denn jegliche Notation, die in ihrem Phänomencharakter als visuell wahrnehmbare Differenz bedingt ist, erscheint auf einer Fläche und präsentiert die Fläche, die sie gestaltet.
Ziel des vorliegenden Teilprojekts ist, auf Grundlage der über hundert Komponistennachlässe in der Paul Sacher Stiftung, eine Systematisierung von Notationsmaterialien in ihrem relationalen Gebrauch. Denn ausgehend von der These, dass solche Materialien einer „Funktions- und Gegenstandsbedingtheit“ (Seidel 1970) unterliegen, wodurch sie erst notationelle Signifikanz erlangen, ist zu fragen: Wie sind Beschreibstoffe und Schreibstoffe beschaffen hinsichtlich ihrer Verwendung in Notizen, Skizzen, Particellen, Partituren, Drucken etc.? Dabei ist in einer vorläufigen Ordnung (in Anlehnung an Röcken 2008) in Betracht zu ziehen der mediale Typus der Objekte, die Beschreibstoffe, die Schreibstoffe, die Verfahren des Notatauftrags, sowie die formale Beschaffenheit der Notate. Ziel ist die Ausarbeitung einer materialen Phänomenologie musikalischer Notate.