Zum Schriftdiskurs
Das Projekt bewegt sich selbstverständlich nicht außerhalb der aktuellen Diskurse der Schriftforschung, innerhalb derer Schrift zusehends als Medium eigenen Rechts und Potentials (an)erkannt wurde. Motiviert und verstärkt wurde die damit einhergehende Fokussierung auf bislang ‚vernachlässigte‘ Dimensionen der Schrift durch einige Überlegungen, die etikettierend als turns zu bezeichnen man sich in den letzten Jahren angewöhnt hat: In den vielgestaltigen Bewegungen und Kritikbewegungen rund um den ‚medial turn‘ fundiert sich das Bewusstsein dafür, dass Medien generell nicht nur eine Repräsentationsfunktion als Zeichen beizumessen sein könne, sondern ihre Medialität durch eine keineswegs neutrale Präsenz des Mediums selbst geprägt sei; Medien verweisen nicht nur auf etwas Anderes, sondern präsentieren sich als aisthetisch wahrnehmbare Objekte stets auch selbst; Medien sind unhintergehbar geprägt davon, dass sie sagen und zeigen (Krämer 2003; Mersch 2002, 2010). Erbt der Diskurs um Schrift und Schriftlichkeit des Weiteren vom ‚linguistic turn‘ die differenzierte Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Sprache und Schrift, so erwächst aus den Überlegungen des ‚iconic turn‘ eine spezifische Rolle für die Konstitutionsleistungen des Bildlichen (Boehm 1994, 2007). In der konfrontativen Koppelung von ‚iconic‘ und ‚linguistic‘ turn wird in schrifttheoretischer Absicht nunmehr deutlich, dass Schrift durch eine seltsame Hybridisierung von Diskursivem und Ikonischen gekennzeichnet ist, und Schriften damit die vermeintliche Disjunktivität der symbolischen Ordnungen des Wortes und des Bildes a priori unterlaufen (Krämer 2003, 2006).
In der musikwissenschaftlichen Notationsforschung haben Fragen, die über die bloße philologische Rekonstruktion hinausgehen und die für eine umfassende Theorie anschlussfähig wären, erst vergleichsweise spät ein nennenswertes Interesse auf sich gezogen. Zunächst standen die frühen Formen der Notation im Mittelalter und der Renaissance im Fokus der Notationsforschung. Nach der Klassifizierung des Zeichenvorrats im Hinblick auf deren praktische Übersetzbarkeit in moderne Notation setzten sich im Bereich mediävistischer Musikforschung vereinzelte Versuche durch, sich mit der Geschichte der musikalischen Notation aus theoretischer und medientheoretischer Perspektive zu befassen.
Zentralen Ausgangspunkt für eine Theorie der musikalischen Notation bilden die in Reflexion von Nelson Goodmans grundlegender semiotischer Studie Languages of Art: An Approach to a Theory of Symbols im Bereich der Musikwissenschaft entstandenen Untersuchungen zur Notation als System von Zeichen unter Berücksichtigung seiner semiotischen Besonderheiten sowie allgemeine Studien zu einer Semiotik der Musik (Karbusicky 1990, Mahrenholz, 1998, Kneif 1990). Im Bereich der historischen Forschungen zur Notationsgeschichte des 20. Jahrhunderts hat sich das musikwissenschaftliche Interesse parallel zur systematischen Erforschung der verschiedenen Typologien von Notationen entwickelt (Karkoschka 1966). Ausgehend von der Reflexion des Verhältnisses von musikalischer Notation und Bild(lichkeit) in den Schriften von Komponisten (z.B.: Stockhausen, Bussotti, Ligeti, Kagel, Logothetis, Brown), richtet die Notationsforschung ihr Interesse auch auf die graphischen Notationen der 1950er und 1960er Jahre.
Im Hinblick auf eine umfassende Theorie der musikalischen Notation sind somit die theoriebildenden Impulse zum Verhältnis von musikalischem Schreiben und Denken sowie zur Frage von musikalischem Stil und Ästhetik aus Perspektive der musikalischen Notation, wie sie in unterschiedlicher Weise diskutiert wurden, von zentraler Bedeutung. Auf die Notwendigkeit, die visuelle Beschaffenheit der Notenzeichen zu berücksichtigen, machten in den letzten Jahren zahlreiche historische Darstellungen aufmerksam.
In den letzten Jahren sind im Bereich der Musikwissenschaft disziplinäre und interdisziplinäre Forschungsarbeiten zur Notation aus schrift- und bildtheoretischer Perspektive entstanden, an welche die hier vorgenommene theoretische Arbeit anknüpfen kann. Zu nennen wären die im Rahmen des in Basel angesiedelten Forschungsschwerpunktes eikones diskutierten Reflexionen des Verhältnisses von (musikalischen) Notationen zu den gegenwärtigen Schrift-, Bild- und Performativitäts-Theorien (Nanni 2009, 2012, 2013, 2014, 2015, 2016, Nanni/Boehm/Lachenmann 2012, Cavallotti 2012, Ungeheuer 2012, Magnus 2014 und 2015, Grüny 2015). erarbeitet worden sind. Von besonderer Relevanz sind überdies Resultate der Forschungsprojekte The Production and Reading of Music Sources (Manchester) sowie Visuelle Logik musikalischer Notation zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit (Basel und Gießen). Darüber hinaus bergen auch die im Anschluss an Sybille Krämers Medienphilosophie der Schrift entwickelten Überlegungen zum Themenbereich der „Schriftbildlichkeit“ wichtige Impulse für das hier skizzierte Projektvorhaben (vgl. etwa Krämer/ Cancik-Kirschbaum/Totzke 2012; Czolbe 2014).